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"Wir haben eine Wirtschaftsdiktatur"

Ernest Kaltenegger im standard.at-Interview

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http://derstandard.at/1322873026256/Ehemaliger-KPOe-Politiker-Wir-haben-keine-Demokratie-mehr" rel="nofollow" target="_blank" class="link-external">Ernest Kaltenegger in einem Interview mit derStandard.at über Politiker, die ihr Handeln nach den Rating-Agenturen ausrichten, und die Verblödung durch Massenmedien.

Ehemaliger KPÖ-Politiker
"Wir haben keine Demokratie mehr"
"Die Menschen verhalten sich leider nicht immer sehr solidarisch. Man ist froh, dass es den Nachbarn erwischt hat und man nicht selbst betroffen ist."

Ernest Kaltenegger über Politiker, die ihr Handeln nach den Rating-Agenturen ausrichten und die Verblödung durch Massenmedien
"Die Politik gestaltet längst nicht mehr, wir hecheln nur noch den Märkten hinterher", sagt Ernest Kaltenegger. Der Steirer war bis 2010 Klubobmann der Kommunistischen Partei in Graz. Für die Menschen bedeute die Krise, dass es "ans Eingemachte" geht. Der Klassenkampf werde geschürt und die Entsolidarisierung im Land werde zunehmen.

Warum die Menschen nicht auf die Straße gehen und demonstrieren, weshalb die Show-Politik von Heinz-Christian Strache zu wenig ist, und warum sich die Leute bei Wahlen derzeit nur aussuchen können, von welcher Regierung sie als nächstes enttäuscht werden möchten, sagt Kaltenegger im Interview mit derStandard.at.

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derStandard.at: Herr Kaltenegger, vor zwei Jahren haben wir uns über die Wirtschaftskrise unterhalten. Jetzt stecken wir noch weiter in der Misere. Wundert es Sie, dass es so gekommen ist?

Kaltenegger: Mich hat überrascht, dass viele geglaubt haben, dass die Krise 2008 schon ausgestanden ist. Jetzt ist sie wieder da. In Wirklichkeit war sie nie weg. Es erschreckt mich, dass die Politik heute ihr Handeln nach den Rating Agenturen ausrichtet. Sie sind der neue Altar, dabei lagen die Rating-Agenturen bei Lehmann Brothers total daneben.

Politik insgesamt ist fürchterlich diskreditiert. Die Politik ist längst abgemeldet. Ich würde jetzt einmal behaupten: Wir haben keine Demokratie mehr. Das kann ich durchaus anhand von Fakten belegen.

derStandard.at: Ein Wirtschaftsdiktatur - oder was meinen Sie?

Kaltenegger: Ja, die haben wir. Die vom Volk gewählten Parlamente sind nur noch dazu da, um Dinge notariell zu beglaubigen, die sich vorher ein kleiner Kreis ausgedacht hat. Das ist auch die Angst, die ich habe, wenn ich an die Entwicklung oder den Zustand der Demokratie denke. Die Leute können sich derzeit nur bei Wahlen aussuchen, von welcher Regierung sie als nächstes enttäuscht werden möchten. Das ist Tatsache. Darum ist es auch so, dass es in Griechenland, Italien oder Spanien wurscht ist, wer an der Regierung ist. Egal, wo man hinschaut, sie müssen einfach diese Vorgaben durchziehen und umsetzen. Die Politik gestaltet längst nicht mehr, wir hecheln nur noch den Märkten hinterher. Die Leute merken dann irgendwann einmal, dass es wurscht ist, wen du wählst. Das kann auf Dauer nicht gut gehen.

derStandard.at: Was bedeutet dieses Agieren der Politik und die Wirtschaftskrise für die Menschen?

Kaltenegger: Dass es jetzt wirklich ans Eingemachte geht. 2008, als die Krise begonnen hat, hat es eine Schrecksekunde gegeben. Alle haben so geredet, als ob sie klüger geworden wären: "Jetzt müssen wir doch eine andere Politik machen, wir müssen das anders steuern. Damit uns das nicht mehr passiert." Trotzdem hat die Politik gleich weitergemacht wie gehabt. Und jetzt ist die Situation wesentlich brutaler. Das werden alle spüren. Bis auf jene, die profitieren. Bei jeder Krise gibt es auch Profiteure.

derStandard.at: Wer profitiert denn?

Kaltenegger: In erster Linie jene, die über viel Geld verfügen. Ihre Einsätze in diesem Casino werden geschützt und die Rechnung bekommt der sogenannte Mittelstand präsentiert, der wegbricht. Es sind die Leute mit sehr niedrigem Einkommen, wo es sehr große Einschnitte gibt. In der Steiermark wurden wirklich empfindliche Einschnitte vorgenommen - auch im Sozialsystem. Ich fürchte, das wird noch schlimmer werden.

Wenn eine Inflation in größerem Ausmaß kommen würde und man valorisiert die Beträge nicht, die beispielsweise jene Menschen beziehen, die eine Mindestsicherung bekommen, dann wird das für die Betroffenen noch viel schlimmer werden.

derStandard.at: Wird es die Mindestsicherung weiterhin geben? Wird die Regierung irgendwann sagen, das geht sich nicht mehr aus?

Kaltenegger: Sie werden es ein bisschen anders machen, sie werden eine Kampagne gegen den sozialen Missbrauch führen.

derStandard.at: Das fängt ja jetzt schon an. Zum Beispiel Die neue ÖAAB-Chefin Johanna Mikl-Leitner nimmt die Schlagworte über den Kampf gegen den Sozialmissbrauch öfter in den Mund.

Kaltenegger: Ja, nach dem Motto: dass Menschen zu Unrecht Beihilfen beziehen, da muss man doch eingreifen. Man wird die Latte höher legen. Man hat ähnliches beim Pflegegeld erlebt. Die unteren Stufen wurden mehr oder weniger eliminiert.

derStandard.at: Wie ist das gekommen, dass in der Steiermark ohne größere Widerstände der Pflegeregress gestrichen wurde und auch das Gratis-Kindergartenjahr zurückgenommen wurde?

Kaltenegger: Es hat schon einen Aufschrei gegeben - von jenen Leuten, die sich damit beschäftigen. Viele kommen aber erst dann drauf, wenn sie Angehörige haben, für die gezahlt werden muss. Es gibt nicht viele Menschen, die immer versuchen, den Gesamtüberblick zu haben.

Die Menschen verhalten sich leider nicht immer sehr solidarisch. Man ist froh, dass es den Nachbarn erwischt hat und man nicht selbst betroffen ist.

derStandard.at: Wird damit ein Klassenkampf geschürt, wenn der Sozialmissbrauch negativ dargestellt wird?

Kaltenegger: Man hat das ja beim Regress im Sozialbereich erlebt. Viele haben nicht um Sozialhilfe angesucht, weil sie Angst gehabt haben, ihre Kinder zu treffen. Dieses Verhalten wird es wieder geben. So gesehen wirkt sich das sehr wohl aus, auf jene die an sich unschuldig sind.

derStandard.at: Wenn es wirtschaftlich noch enger wird, werden die Menschen dann näher zusammenrücken? Oder ist das eine Utopie?

Kaltenegger: Ich bin da skeptisch. Es ist ein Wunsch. Aber ich glaube, dass eher die Entsolidarisierung noch verstärkt wird. Jeder versucht, es für sich zu regeln. Zu einer Solidarisierung kommt es am ehesten, wenn gleichzeitig viele verschiedene Menschen vor demselben Problem stehen. Dann kann es zu einem gemeinsamen Aufschrei, einer gemeinsamen Bewegung kommen.

Vielleicht passiert es zu einem späteren Zeitpunkt. Wenn die Menschen begreifen, dass es nur eine Chance gibt: Dass es zu einer Solidarisierung kommt. Momentan holt man sich einzelne Berufsgruppen heraus. Zum Beispiel die Beamten.

derStandard.at: Was sagen Sie zur Nulllohnrunde für steirische Gemeindebediensteten?

Kaltenegger: Das ist eine Sauerei. Es stimmt ja nicht, dass die Beamten alle über einen sicheren Arbeitsplatz verfügen, wie man das immer sagt. Die meisten sind Vertragsbedienstete. Die Pragmatisierungen hat man mehr oder weniger eingestellt. So sicher sind die Arbeitsplätze im öffentlichen Dienst auch nicht mehr. Wenn man sich anschaut, was bei den großen Vermögen an Zuwächsen da ist. Da gibt es keine Nulllohnrunde.

derStandard.at: Aber Landeshauptmann Voves und sein Vize Schützenhöfer argumentieren, sie wollen sparen, damit die zukünftigen Generationen nicht dafür bluten müssen.

Kaltenegger: Lächerlich.

derStandard.at: Aber es geht auf in der Steiermark. Die Menschen nehmen es an.

Kaltenegger: Die Medien tun auch ihren Teil dazu, dass das funktioniert. Sie schreiben: Müssen wir halt den Gürtel enger schnallen. Aber es wirkt sich ja auch auf die Wirtschaft aus. Wenn die Leute nicht mehr genug Einkommen haben, werden die Konsumenten und Konsumentinnen einmal fehlen, die gebraucht werden, um die Produkte zu kaufen, die hergestellt werden und die man loswerden will, damit die Wirtschaft läuft.

derStandard.at: In der Steiermark sollen Gemeinden zusammengelegt werden.

Kaltenegger: Ja, aber dabei scheint die Demokratie im Weg zu sein, wie die letzte Volksbefragung gezeigt hat.

Wenn ich zurückdenke, wie lange wir bestimmte Dinge diskutiert haben, zum Beispiel die Mindestsicherung, bis sie einmal umgesetzt wurden und wie schnell plötzlich Bankensicherungspakete in Milliardenhöhe beschlossen werden können, dann muss man hinterfragen, für wen diese Regierungen eigentlich Politik machen.

derStandard.at: Wenn man die Situation in den europäischen Kontext stellt, geht es den Österreichern aber noch gut. Sehen Sie das nicht so?

Kaltenegger: Man könnte auch sagen, unter den Blinden ist der Einäugige König. Auch bei uns kann sich die Situation sehr rasch verändern.

derStandard.at: Zum Negativen.

Kaltenegger: Zum Positiven wird es, fürchte ich, nicht viele Veränderungen geben.

derStandard.at: Die Occupy-Bewegung lehnt sich gegen die Banken auf. Warum finden sich in Österreich nicht genug Leute zusammen und demonstrieren?

Kaltenegger: Ich glaube, dass zum Teil der Blick auf die Gesamtzusammenhänge fehlt. Es gibt viele, die über die Banken schimpfen, wenn sie mit ihrem Sparbuch hingehen und merken, wie wenig Zinsen sie kriegen. Wenn sie schauen, welche Gebühren bei ihrem Gehaltskonto schon eingehoben werden. Da gibt es schon Unmut, aber er ist noch nicht so kanalisiert. Er ist noch nicht so stark im Bewusstsein, dass die Menschen das Gefühl haben, so kann es nicht mehr weitergehen. Aber das kann sich ändern.

derStandard.at: Es gibt den Herrn Strache, der spricht die unguten Gefühle bei den Menschen sehr wohl an, zwar auf eine populistische Art. Warum hat die Linke dem nichts entgegenzusetzen?

Kaltenegger: Es ist schwierig, wenn man einigermaßen seriös bleiben möchte, Dinge auch so verkürzt darzustellen. Man weiß, so einfach ist es wieder auch nicht. Wenn man sich die Politik der FPÖ anschaut: Sie sprechen zwar Dinge an, die kritisiert gehören, aber in ihrem politischen Handeln sind sie völlig anders. Was machen sie in Kärnten? Sie tun so, als ob sie mit der Hypo Alpe Adria nie etwas zu tun gehabt hätten. Letztendlich bin ich überzeugt, dass es die Menschen merken werden. Mit Show alleine ist es nicht getan.

derStandard.at: Wie konnte es so weit kommen? Es gibt den provokanten Spruch: Jedes Land hat die Regierung, die es verdient.

Kaltenegger: In Italien hat man die Leute über die Massenmedien verblödet, die Leute haben sich immer weniger für Politik interessiert. Dabei war das früher ganz anders. Bei uns sind auch solche Tendenzen zu erkennen. Die politischen Parteien haben ihre Programme längst durch Events ersetzt.

derStandard.at: In Deutschland etabliert sich gerade eine Partei, die Piraten. Hätten diese auch in Österreich eine Chance?

Kaltenegger: Ich bin skeptisch. Solche Bewegungen kommen und gehen, wenn nicht ein wirkliches Fundament da ist. Eine Partei braucht schon auch Grundsätze. Die Piraten kümmern sich um bestimmte Bereiche, aber an Grundsatzfragen sind sie nicht herangegangen.

derStandard.at: Sie sind seit 2010 nicht mehr in der Politik. Vermissen Sie das?

Kaltenegger: Ich engagiere mich noch im Bildungsverein der KPÖ. Was ich absolut nicht vermisse sind die Gremien, das war manchmal sehr mühsam. Ansonsten kann man sich noch immer politisch betätigen. Mit ihren Problemen kommen die Leute noch immer zu mir. Das ist so wie vorher, nur eben ohne die Gremien.

derStandard.at: Frank Stronach ist auch in der Steiermark zu Hause. Er will eine neue Partei finanziell unterstützen. Könnten Sie da ideologische Schützenhilfe leisten?

Kaltenegger: Ich denke, da wird er nicht so viel Freude haben. Er wollte ja eine zivilisierte Partei gründen. (lacht)

derStandard.at: Wohlhabende überlegen sich, wie Sie sich über die Krise retten können. Gold oder Immobilien stehen hoch im Kurs. Was wird aus jenen, die nicht so begütert sind?

ERNEST KALTENEGGER, geboren 1949 in Rötsch bei Obdach im Bezirk Judenburg, war von 2005 bis 2010 KPÖ-Klubobmann und Abgeordneter im Grazer Landtag. Als Wohnungsstadtrat sorgte er unter anderem deshalb für Aufsehen, weil er einen Teil seines Politikergehaltes an Bedürftige spendete. Bei der Grazer Gemeinderatswahl im Jahr 2003 errang er sensationelle 21 Prozent. Erstmals seit 35 Jahren schaffte die KPÖ damals wieder den Einzug in den Landtag. Bei den Landtagswahlen 2005 wurde die KPÖ mit 6,3 Prozent drittstärkste Partei in der Steiermark. Bei den Landtagswahlen 2010 kandidierte Kaltenegger nicht mehr.

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7. Dezember 2011