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Buchenwald: Grußadresse von Franz Leitner


Buchenwald. 60. Jahrestag der Befreiung:
Grußadresse von Franz Leitner

Am Sonntag fand in Weimar die offizielle Gedenkveranstaltung zur Befreiung des KZs Buchenwald vor 60 Jahren statt.
Franz Leitner – zwischen 1939 und 1945 KZ-Häftling, danach unter anderem steirischer KPÖ-Landesobmann und in den Jahren 1961 – 1970 Landtagsabgeordneter, musste wegen seines angegriffenen Gesundheitszustandes aber die Einladung zur Teilnahme an dieser Feier ausschlagen. Im Folgenden dokumentieren wir seine Grußadresse zum 60. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Buchenwald:

Liebe Freunde, liebe Kameraden, die als Kinder oder jugendliche Häftlinge in das Konzentrationslager Buchenwald verschleppt worden waren, im Oktober 1943 übernahm ich, Franz Leitner, auf Geheiß meiner österreichischen Kameraden die Funktion des Blockältesten in der Baracke 8, später Kinderblock genannt. Zu diesem Zeitpunkt waren in der Baracke als Ergebnis des Zugangs von 4.000 Häftlingen aus der UdSSR vorwiegend russische, ukrainische, aber auch polnische Jugendliche und Kinder untergebracht. Den rund 300 Jungen mangelte es nicht nur an allen wichtigen lebensnotwendigen Dingen, sondern sie waren durch ihre Unkenntnis der Lagerverhältnisse und ihrer Gefahren dem Terror der SS verstärkt ausgesetzt.

Für mich, den damals 25jährigen - seit September 1939 in Buchenwald - waren die zu lösenden Probleme übermächtig. Nur die volle Unterstützung durch die illegale Widerstandsorganisation und die tagtägliche Solidarität der politischen Häftlinge mit den Jungen im Block 8 gaben mir die Möglichkeit, Leben zu retten, die Lebensbedingungen in der Baracke erträglicher zu gestalten, die Jungen in leichtere Arbeitskommandos, in denen Antifaschisten das Sagen hatten, zu vermitteln und ihnen Hoffnung auf ein Überleben zu machen.

Mein besonderer Dank gilt dem damaligen Lagerältesten Erich Reschke, der mir mit der Jungend verbundene Kameraden als Helfer zur Verfügung stellte. Das waren: mein tschechischer Stellvertreter Palkowsky, die Ukrainer Wolodja Cholopzew, Nikolai Sadumow und der ukrainische jüdische Kamerad Jakow Goftman, ein exzellenter Zirkuskünstler, die als Stubendienste gleichzeitig Kontaktpersonen, Erzieher und Dolmetscher waren.

Große Hilfe erhielten wir sowohl vom Krankenrevier, vor allem vom Kapo Ernst Busse, und dem Block-Sanitäter, dem jüdischen ungarischen Arzt Denes May, die die medizinische Hilfe organisierten und verhinderten, daß vor allem die jüdischen Jungen und die Sinti nicht an bestimmte SS-Ärzte gerieten, die ihnen die Todesspritze gegeben hätten.

Die Einteilung der Jungen in sogenannte leichte Arbeitskommandos war für viele von lebensentscheidender Bedeutung. Das gelang uns durch Unterstützung der Kameraden in der Arbeitsstatistik und die Kapos oder Vorarbeiter, die sich für die Jungen in ihren Arbeitskommandos besonders einsetzten, sie anleiteten und vor den Strafen der SS-Kommandoführer schützten. Zu ihnen zähle ich besonders: Baptist Feilen aus der Wäscherei, Paul Wunderlich in der Häftlingsküche, wo viele Jungen als Kartoffelschäler untergebracht waren, Robert Siewert mit seinen Kameraden vom Baukommando 1, die Vorarbeiter in Schlosserei, Tischlerei, Schneiderei, Bekleidungskammer und andere.

Als ab Juni 1944 verstärkt junge jüdische Häftlinge, darunter eine große Anzahl von Kindern, mit Transporten aus dem Osten ins Lager kamen, gelang es mit Hilfe der Kameraden in der Schreibstube - Kapo Hans Neumeister und seinem Stellvertreter Benno Biebel - eine größere Anzahl von ihnen aus dem berüchtigten Kleinen Lager - der Pestbeule Buchenwalds - in den Block 8 zu überführen. Durch Manipulationen der Schreibstube trugen sie im Block nicht den David-Stern auf der Kleidung und waren damit äußerlich nicht als Juden gekennzeichnet, was sie kurz vor der Befreiung vor der Evakuierung rettete. Hunderte ihrer Kameraden konnte dagegen im Kleinen Lager nicht vor den Evakuierungstransporten bewahrt werden. Erinnern möchte ich auch an die vielen Solidaritätsaktionen zur Aufbesserung der Hungerrationen der Jungen. Ich denke hierbei an die Franzosen, Niederländer und andere, die "Rote-Kreuz-Pakete" erhielten, oder die Hilfe der im Lager befindlichen norwegischen Studenten, die Lebertran spendeten.

Nachdem ich im Oktober 1944 von der Gestapo in den SS-Bunker in einer Kaserne am Steinbruch geworfen worden war, übernahm Anfang Januar 1945 der deutsche politische Häftling und Lehrer Wilhelm Hammann die Funktion des Blockältesten von meinem Stellvertreter. Wilhelm konnte sich auf eine gewachsene, verschworene und festgefügte Gemeinschaft von Erwachsenen und Jugendlichen stützen, die allen Gefahren besonders vor der Befreiung trotzte.

Als am 11. April die Stunde der Befreiung schlug, befanden sich 328 Jugendliche bis zu 18 Jahren und mindestens 42 Kinder der Jahrgänge 1930 bis 1937 in der Baracke. Einer der jüngsten waren der damals 9jährige Sinto Josef Berger und der 7jährige Jude Naftali Lau, später bekannt als Meir Lau, Oberrabbiner des Staates Israel.

Seit unserer Befreiung sind 60 Jahre vergangen; viele unserer Kameraden sind nicht mehr unter den Lebenden. Die Erinnerungen an die Verbrechen der Nazis, besonders der Tod von Angehörigen und Kameraden bleiben unvergessen, wenn auch manches verblaßte.

Unser Leben begleitete stets das dankbare Erinnern an die uns unter höchster Gefahr für Leib und Leben erwiesene Solidarität unserer Mithäftlinge.

In der heutigen Zeit gibt es starke Bemühungen von Einzelpersonen und neofaschistischen Organisationen, die Verbrechen der Nazis zu bagatellisieren, ja selbst den Holocaust an den Juden, Sinti und Roma und ihre Vernichtung in Auschwitz und anderen Lagern zu leugnen. Der antifaschistische Widerstandskampf wird in Mißkredit gebracht oder als kommunistisch abgetan.

Nazi-Symbole, unter deren Zeichen Millionen Menschen in Europa leiden, ja sterben mußten, sind wieder "in". Rassismus, Antisemitismus und die Fremdenfeindlichkeit sind - gepaart mit einem hochgeputschten Nationalismus - die Grundlage ihrer Ideologie. Demokratie soll durch das Führerprinzip ersetzt werden. Ein mehr oder weniger kaschierter Neonazismus wird der Jugend als alleiniger und einfachster Weg aus den Problemen, die uns der ausufernde Kapitalismus und die sozial nicht abgefederte Globalisierung bringen, propagiert.

Wir, die letzten noch lebenden Augenzeugen der Verbrechen des Nazismus rufen Euch zu: "Unsere schwere Vergangenheit darf niemals die Zukunft unserer Kinder und Kindeskinder werden!" Wir sind sicher, daß die heutige Jugend die neonazistischen Parolen und Aktivitäten nicht stillschweigend hinnehmen wird, daß sie Selbstcourage zeigt, sich zu wehren weiß und sich diesem Zeitgeist nicht anpaßt. Laßt das Vermächtnis des Widerstandes gegen Krieg und Faschismus nicht in die Vergangenheit versinken.

Januar 2005

Franz Leitner, Höf-Präbach, Mitglied der KPÖ, 1936 und 1937 mehrere Verhaftungen und Haftstrafen wegen aktiver Tätigkeit im KJV, ab 1939 KZ Buchenwald. Nach 1945 KPÖ-Bezirkssekretär Wiener Neustadt, Vize-Bürgermeister, Stadtrat.

Wollte sich in Buchenwald persönlich an seine früheren "Buchenwaldkinder" wenden, muß jedoch wegen seines angegriffenen Gesundheitszustandes alle Einladungen des ILK und der Staatskanzlei leider ausschlagen.

11. April 2005