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100. Geburtstag von Walter Markov

Bedeutender Revolutionshistoriker - In Graz geboren

"Weltgeschichte im Revolutionsquadrat"
Zum 100. Geburtstag von Walter Markov - Von Werner Berthold

Walter Markov, marxistischer Historiker von Weltruf in der DDR und gleichfalls im wiedervereinten kapitalistischen Deutschland, wurde am 5. Oktober 1909 in Graz als Sohn einer Wienerin sächsischer Herkunft und eines kaufmännischen Angestellten slowenischer Nationalität geboren. (Seine Geburtsstadt hat ihn bisher nicht gewürdigt). So wuchs er zweisprachig auf. Zudem wurde infolge mehrerer Umzüge sein schulischer Unterricht in diesen Sprachen und zudem in Serbokroatisch erteilt. Für den künftigen Universalhistoriker war es gleichfalls von großer Bedeutung, dass er im und nach dem ersten Weltkrieg in zwei multinationalen Staaten aufwuchs: In der Habsburger-Monarchie und nach deren Ende 1918 im Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen (SHS-Staat), das seine erfolgreiche Kommunistische Partei 1920 verbot, 1929 eine quasifaschistische Diktatur bei Beibehaltung der monarchischen Staatsform errichtete. All dies, wie die erfahrenen nationalistischen Konfrontationen in diesen Staatsgebilden, hatte in ihm eine tiefe Verachtung für "jede Abart von Nationalismus" erzeugt. Neben der erfahrenen Geschichte bewirkte die Begeisterung für Hannibal, die ihn mit dem Römischen Reich und seinen Gegnern vertraut machte, dass seine "Orientierung auf die Spur der Geschichte" schon im 10. Lebensjahr festlag.

Universitätsjahre und antifaschistischer Kampf

So fuhr er nach dem Abitur 1927 nach Leipzig, um hier sowie in anderen Universitätsstädten als Werkstudent ein breit angelegtes Studium der Geschichte und ihrer Nachbardisziplinen aufzunehmen. Der internationale fachwissenschaftliche Ruf, den die deutsche Geschichtswissenschaft im 19. Jahrhundert gewonnen hatte, war für die Ortswahl seines Studiums gewiss entscheidend. Doch der auf Ranke zurückgehende deutsche Historismus, der im Sinne Treitschkes auf den Machtstaat und die "Männer, die Geschichte machen", orientierte, war ihm ebenso fremd wie der Revanchismus und Antikommunismus, der die große Mehrheit der damaligen deutschen Studenten bestimmte. Die konsequenteste Antithese dazu fand er im "Gedankengut des Kommunismus", das ihn schon als Schüler zu erfassen begann und in dem er "eine wichtige Stufe der historischen Weltentwicklung" sah.

Nur drei Professoren, die auf unterschiedliche Weise Außenseiter in der deutschen Geschichtswissenschaft waren, nennt er als seine Lehrer: Fritz Kern in Bonn, Otto Hoetzsch und Arthur Rosenberg in Berlin. Der Osteuropahistoriker Hoetzsch kooperierte mit dem damals führenden sowjetischen Historiker Pokrovskij. Der marxistische Historiker der Alten wie Neuesten Geschichte Rosenberg - bis 1927 führendes Mitglied der KPD und Komintern - vermittelte Markov Grundzüge der marxistischen Methode. Der an Lamprecht orientierte Universalhistoriker und Nazigegner Kern wurde sein Doktorvater. Zudem entstand zwischen ihm und Markov eine antifaschistische Solidarität. In Kenntnis seiner antifaschistischen Aktivität schlug ihm Kern vor, rasch zu promovieren. Das erfolgte 1934 mit einer Arbeit über "Serbien zwischen Österreich und Russland 1897-1908".

Ursprünglich wollte sich Markov erst nach umfassendem Erkenntnisgewinn "politisch ins Gefecht stürzen". Dass änderte sich, "als der Faschismus über uns hereinbrach". So gründete er 1934 eine antifaschistische Widerstandsgruppe und wurde im gleichen Jahr Mitglied der illegalen KPD, in der er auch Funktionen wahrnahm. Diese Gruppe wurde aber 1935 verraten. Im folgenden Gerichtsverfahren nahm er alles auf sich. So erfolgte der Freispruch seiner Genossen, während er "wegen Vorbereitung eines hochverräterischen Unternehmens" zu 12 Jahren Zuchthaus verurteilt wurde.

Im Zuchthaus Siegburg fand er Verbindung zu anderen antifaschistischen Gefangenen, mit denen er die politische und militärische Entwicklung diskutierte und einen Plan zur Selbstbefreiung ausarbeitete. Zuvor hatte Kern dank seiner Verbindung zum Zuchthausdirektor erwirkt, dass seine Bibliothek aus den Trümmern der Universität ins unversehrte Zuchthaus verbracht und von Markov verwaltet und genutzt werden konnte. Bevor Kern in die Schweiz floh, hatte er Markov in Kenntnis seiner Pläne 2 000 Mark für den Ankauf von zwei Pistolen und Munition übergeben, die zur illegalen Handelsware krimineller Häftlinge gehörten. Ohne dass deren Gebrauch erforderlich war, kapitulierten die Zuchthauswächter vor den politischen Gefangenen beim Nahen der amerikanischen Truppen. Diese wurden zu ihrem Erstaunen von Markov - an der Spitze einer gewählten "revolutionären Leitung" - begrüßt.

Entscheidung für die Wissenschaft

Markov kehrte nach Bonn zurück, wo er mit seinen Genossen eine umfangreiche antifaschistische Tätigkeit entfaltete und gegen die völlig ungenügende Entnazifizierung anging. Auch Parteifunktionen nahm er wahr. Der spätere Vorsitzende der DKP Kurt Bachmann wollte ihn für die Agit-prop-Arbeit gewinnen. Unter Revolutionären unterschied Markov aber zwei notwendige Typen: Die "Funktionäre" und die "Partisanen", wobei er sich zu den Letzteren zählte. Zudem war er davon überzeugt, dass er als Berufshistoriker auch hinsichtlich seiner "unwiderruflich(en) politischen Option" viel mehr zu leisten vermag. Die Bonner Universität bot ihm aber keine Perspektive. Ein analoges Verhalten gegenüber marxistischen Historikern war in allen Westzonen zu verzeichnen, was auch Ernst Engelberg feststellen musste.

Um seine Möglichkeiten als Historiker in der Sowjetischen Besatzungszone zu erkunden, reiste er Ende 1945 nach Berlin. Prof. Robert Rompe, der für das Hochschulwesen zuständig war, lud ihn zu einer Historikerkonferenz ein. Diese sollte prüfen, ob die Bedingungen für die Zulassung eines neuen Geschichtsstudiums schon gegeben sind. Sie fand im Mai 1946 in Berlin statt. Die maßgebenden deutschen Antifaschisten wie auch die SMAD legten großen Wert auf die Teilnahme der Universitätsprofessoren bei der "Neugestaltung der Geschichtswissenschaft". Und die Berufung marxistischer Historiker sollte auf dem traditionellen akademischen Weg erfolgen. So waren auch Rektoren und Dekane, die keine Historiker waren, der Einladung gefolgt. Den einleitenden Vortrag "Die gegenwärtige Lage Deutschlands und ihre Bedeutung für die Geschichtswissenschaft" hielt Anton Ackermann. Markov entsprach als erster der mehrfachen Aufforderung zur Diskussion. Sein Beitrag hinterließ einen solchen Eindruck, dass ihn die Rektoren von Leipzig und Greifswald noch auf der Konferenz Berufungen antrugen. Später kam Halle dazu. Markov wählte aber Leipzig.

Als Historiker an der Leipziger Universität

Die Übersiedlung erfolgte im Oktober 1946. Er nahm sofort eine Fülle politischer und wissenschaftlicher Aufgaben als Mitglied der SED-Parteileitung im Lande Sachsen wahr. Seine Lehrveranstaltungen über die "Geschichte Russlands und der Sowjetunion", "Revolutionen der Neuzeit" sowie über "Südosteuropa", die "Soziologie Jugoslawiens" und analoger Thematik, die er an den Universitäten in Leipzig und Halle bestritt, wurden ein großer Erfolg. Die zugleich entstehende Habilitationsschrift zum Thema "Grundzüge der Balkandiplomatie. Ein Beitrag zur Geschichte der Abhängigkeitsverhältnisse", schließt mit einer hohen Würdigung Titos, in dem er den möglichen "Präsidenten" einer "ersten Balkanföderation" erblickte. Nach erfolgter Habilitation 1947 wurde Markov 1949 ord. Professor und Leiter des von Karl Lamprecht 1890 gegründeten "Instituts für Kultur- und Universalgeschichte."

Unbegreiflich war es jedoch für ihn wie für seine Freunde und Schüler, dass im Zuge einer Mitglieder-Überprüfung der SED 1951 sein Ausschluss als "Parteifeind" erfolgte. "Titoismus" wurde u. a. als Grund genannt. Markov konnte und wollte die Bewertung Titos in seiner Habilschrift natürlich nicht verändern, als dieser 1948 von Stalin und der Kominform verdammt wurde. Unter den Bedingungen des ausgebrochenen Kalten Krieges wurde zudem der aktive "Partisan" Markov, der seine "Westkontakte" aus der Zeit zuvor aufrecht erhielt, den für Sicherheit zuständigen "Funktionären" verdächtig. Seine akademische Stellung wurde jedoch wider Erwarten nicht verändert, was wohl vornehmlich dem Staatssekretär Prof. Gerhard Harig zu danken ist. Trotzdem musste er sein künftiges Schaffen und Wirken bedenken. Zudem hatte er mit Irene Bönninger, seiner mutigen Mistreiterin, im Dezember 1947 eine Familie gegründet.

Da weitere Forschungen über die Balkanstaaten für ihn ein Risiko darstellten, suchte er eine neue Thematik. Der bedeutende Romanist Werner Krauss schlug ihm vor, sich der Geschichte der Großen Französischen Revolution zu widmen. Diese wurde nun sein Hauptthema. Im Rahmen umfassender Darstellungen - erwähnt sei nur das mit seinem Freund Albert Soboul verfasste Werk "1789 Die Große Revolution der Franzosen" (Berlin 1973) - konzentrierte sich sein Interesse auf Jacques Roux. Dieser zählte zu jenen Geistlichen, die es mit einem ursprünglichen Christentum ernst meinten, sich in die Revolution einbrachten und in ihr entschieden für die ungeschmälerten Rechte der ärmsten werktätigen Schichten eintraten. Als äußerste Linke wiesen sie damit über die Ziele einer bürgerlichen Revolution hinaus. Dies ging selbst den Jakobinern zu weit. Sie warfen Roux ins Gefängnis. Das mehrbändige Werk Markovs über ihn zeugt von seinem politischen Grundanliegen, das sich von seiner Geschichtsforschung und -schreibung nicht trennen lässt. So verstand er sich nach seinem Parteiausschluss als "parteiloser Bolschewik" und erst 1990 trat er der PDS bei, die sich für die Absurdität ihrer Vorgänger entschuldigte und ihn vollkommen rehabilitierte.

Als Historiker war er aber so unentbehrlich geworden, dass er bereits nach der Hochschulreform 1951 nicht nur zum Direktor des "Instituts für Allgemeine Geschichte der Neuzeit", sondern auch zum kommissarischen Direktor des "Instituts für Geschichte der Völker der UdSSR" ernannt wurde.

Mit Ernst Bloch, Ernst Engelberg, Werner Krauss und Hans Mayer gehörte er zu jener Elite, die in den 50er Jahren das hohe Ansehen der Leipziger Universität im Bereiche der Gesellschafts- und Geisteswissenschaften bestimmte.

Vergleichende Revolutionsforschung

Mit engagierten Schülern strebte Markov schon in diesen Jahren mit seinen Forschungen zur französischen Revolution zugleich ein universalgeschichtliches Ziel an. So hieß es, Markov habe die Welt aufgeteilt, wobei Lothar Rathmann den nordafrikanischen Raum, Manfred Kossok Lateinamerika und Kurt Büttner das subsaharische Afrika als Forschungsdomäne übernahmen. Markov selbst wirkte als Gastprofessor im nigerianischen Nsukka. Diese Bestrebungen führten zu einem Forschungszentrum Asien-Afrika-Lateinamerika unter den Aspekten der Kolonialisierung, der antikolonialen Befreiungsbewegungen und der Überwindung des Eurozentrismus. Auch nach Ablösung dieses Zentrums durch das Projekt "Vergleichende Revolutionsgeschichte" wirkte es in diesem wie in anderen Zentren - so im "Zentralen Rat für Asien-, Afrika- und Lateinamerikawissenschaften" unter Vorsitz Rathmanns - fort. Eine große nationale und internationale Wirkung erlangte ein 1976 gegründetes "Interdisziplinäres Zentrum für vergleichende Revolutionsforschung", das unter diesem Aspekt viele geschichtswissenschaftliche Disziplinen einbezog. Um sich gegenüber illegitimen Einflussnahmen abzuschirmen, ging es zwar über 1917 nicht hinaus, befruchtete jedoch die Erforschung der gesamten folgenden wie auch der vorherigen Geschichte. Unter aktiver Mitwirkung von Markov, dem der Ehrenvorsitz übertragen wurde, hatte Kossok, sein Meisterschüler und Nachfolger, die Leitung übernommen. Dieser, den noch vor Markov der Tod am 27.2.1993 ereilte, charakterisierte dessen umfassendes Gesamtwerk treffend als "Weltgeschichte im Revolutionsquadrat", das sich in universalhistorischer Dimension vom Feudalismus bis ins 20. Jahrhundert erstreckt.

Im Rahmen der vergleichenden Revolutionsforschung wurde eine Typologie bürgerlicher Revolutionen entwickelt. Besonderes Interesse fand die Unterscheidung: Revolutionen im Feudalismus für den Kapitalismus (Frankreich 1789) sowie im Kapitalismus für den Kapitalismus (Frankreich 1848). Mit den wachsenden Entwicklungsproblemen des "realen" Sozialismus stellte sich jedoch die Frage, ob diese durch Reformen oder nur noch durch eine Revolution im Sozialismus für den Sozialismus zu lösen sind. Markov hatte sie schon in der zweiten Hälfte der 80er Jahre beantwortet. Ausgehend vom Prinzip des "Demokratischen Zentralismus" stellte er fest, dass "man Demokratie mit der Lupe suchen" muss, während der Zentralismus bis in die feinsten Verästelungen auswuchern konnte ... Eine natürliche Reaktion auf eine solche Krise, wenn sie von Klasseninhalten getragen wird, kann eine Revolution sein." 1989/90 bestätigte sich aber die Befürchtung, dass diese mit dem "Existenzrisiko der sozialistischen Gesamtperspektive" verbunden ist (Kossok).

Herbst 1989: Eine friedliche "Revolution"?

Markov und Kossok unterschieden gleich anderen zwei konträre Abschnitte in der Protestbewegung von Bürgern der DDR, die oft unter dem Begriff "friedliche Revolution" undifferenziert zusammengefasst werden: Das Streben nach Demokratisierung in der DDR einerseits sowie nach deren Liquidierung und Anschluss an die BRD andererseits. In einem Briefwechsel verwandten Markov und sein befreundeter israelischer Kollege Walter Grab für die "Wende", die zur Restauration des Kapitalismus in der DDR führte, das französische Wort Vendee. Auch Kossok und andere Historiker - darunter der Verfasser - gebrauchten diesen Begriff, der wohl zuerst von Engels als Synonym für Konterrevolution Anwendung gefunden hat. Als Synonym für die "Wende" erscheint er aber aus historischen Gründen als problematisch. So ist er auch in späteren Stellungnahmen von Markov und Kossok nicht mehr zu finden. Denn in dieser westfranzösischen Landschaft erfolgten seit 1791 bewaffnete Kämpfe gegen die französische Revolution, die zudem mit separatistischen Bestrebungen verbunden waren. Noch problematischer dürfte aber die Anwendung eines Revolutionsbegriffs auf den weiteren Verlauf der ursprünglichen Protestbewegung in der DDR ab November/Dezember 1989 sein; denn Revolution bedeutet nicht nur Wechsel der Machtverhältnisse und des Wirtschafts- und Gesellschaftssystems an sich, sondern die Einführung eines neuen Systems. Wird aber ein System, das in seiner Grundstruktur schon existiert hatte, wieder hergestellt, dürfte es angebrachter sein, von Restauration zu sprechen.

Diese Fragen können hier natürlich nur aufgeworfen werden.

Das gilt auch für das Prinzip "Rückgabe vor Entschädigung", das selbst ein einstiger Bundeskanzler heftig kritisierte und dem Walter Markov unterlag. So musste er als kranker Emeritus mit seiner Familie die Leipziger Wohnstatt verlassen und nach dem Dorf Summt (bei Oranienburg) übersiedeln. Hier starb der bedeutende Historiker am 3. Juli 1993. Mehr als hundert seiner Freunde und Kollegen waren angereist, um ihm die letzte Ehre zu erweisen.

Prof. Dr. em. Werner Berthold
Historiker, Leipzig

(Aus UZ, 9. 10. 2009)

Veröffentlicht: 14. Oktober 2009

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