Hautmann: Befreiung ... und das Österreich von heute
Hans Hautmann
Befreiung, Staatsvertrag, Neutralität und das
Österreich von heute
Rede auf der Festveranstaltung der steirischen KPÖ in Graz,
Samstag, 30. April 2005
Wenn wir heute zusammengekommen sind, um des antifaschistischen Widerstandes, der Befreiung Österreichs im Jahr 1945, des Staatsvertrages und der Neutralitätserklärung zu gedenken, dann ist die Bezeichnung „Festveranstaltung“, wie es in der Einladung heißt, sehr wohl gerechtfertigt. Gerechtfertigt vor allem für jene Menschen und politischen Kräfte in unserem Land, die diese Traditionen bewusst hochhalten. Weniger festlichen Charakter hat die Erinnerung daran für jene, die diese Fundamente der 2. Republik sukzessive aushöhlen, die zwar im heurigen Gedenkjahr ein gewaltiges Getöse machen mit Ausstellungen, Erinnerungsartikeln in den Zeitungen, Fernsehsendungen, Symposien und offiziellen Reden, die aber gerade das, was Kern der Sache ist, entweder unter den Tisch fallen lassen oder verdreht, verfälscht, auf ihre Bedürfnisse zurechtgebogen der Öffentlichkeit darbieten. Sinn und Aufgabe meines Referats ist es, die Dinge hier ins Licht der historischen Wirklichkeit zu rücken und daraus Schlussfolgerungen abzuleiten, die für die aktuellen politischen Auseinandersetzungen um den Weg, den Österreich seit einiger Zeit und gegenwärtig beschreitet, von Bedeutung sein können.
Antifaschistischer Widerstand
Der historische Sieg über den Faschismus im Jahr 1945 ist ohne
Berücksichtigung einer grundlegenden Bedingung unmöglich zu
verstehen. Die Besonderheit des Zweiten Weltkriegs war, dass neben
dem Kampf der regulären Armeen an den Hauptfronten eine neue Kraft,
ein neuer militärischer und politischer Faktor in einem Ausmaß in
Erscheinung trat, wie ihn die Geschichte bis dahin nicht gekannt
hatte: der antifaschistische Widerstandskampf der Völker, der in
Ländern wie Jugoslawien, Griechenland, Polen, Italien, Frankreich,
Tschechoslowakei, Norwegen und den besetzten Teilen der Sowjetunion
in seine höchste Form, den Partisanenkrieg, überging und 1944/45
vier bis fünf Millionen Menschen erfasste.
In den genannten Ländern waren die Bedingungen, um breite
Volksmassen zum aktiven Handeln gewinnen zu können und unter ihnen
Verständnis für die Ziele der Widerstandsbewegung zu erwecken,
günstig. Hier war der Feind in erster Linie der ausländische
faschistische Okkupant, der in das Land eingefallen war und ein
Terrorregime errichtet hatte. Dass der Kampf gegen den auswärtigen
Aggressor mit dem Kampf gegen seine einheimischen Kollaborateure
und Quislinge verbunden werden musste, ergab sich von selbst.
Ungleich schwierigere Bedingungen herrschten für die
Widerstandsbewegung in Ländern, in denen der Faschismus bereits
seit Jahren an der Macht war, in Ländern wie Deutschland und
Österreich. Denn hier musste der Kampf auf den Sturz der eigenen
Regierung und auf die Niederlage des eigenen Landes abzielen. Eine
solche Einsicht musste die in breiten Kreisen der Bevölkerung
vorhandene und im Zuge der Blitzkriegsiege noch verstärkte
chauvinistische Verhetzung, die nationale und soziale Demagogie und
die Täuschung des Volkes über die wahren Ursachen und Ziele des
Krieges erst überwinden, um eine wirkliche Massenbewegung gegen
Faschismus und Krieg entwickeln zu können.
Wir wissen, dass das ausblieb, dass es dem deutschen und
österreichischen Volk nicht gelang, das NS-Regime aus eigener Kraft
abzuschütteln. Die Hitlerdiktatur, ein aus dem Boden
kapitalistisch-imperialistischen Expansionsstrebens
emporgewachsenes und es ins Extreme übersteigerndes Regime des
Verbrechens, Herrenmenschendünkels und Rassenwahns, erfüllt von
wilder Aggressivität nach außen und schonungsloser Verfolgungs- und
Vernichtungswut gegenüber jedweder inneren Opposition, konnte erst
durch die vereinten Anstrengungen der großen Weltvölker, nach
jahrelangen gewaltigen, blutigen Schlachten niedergezwungen werden.
Die Verdienste jener Frauen und Männer in unserem Land, die, aus
den verschiedensten Lagern kommend, mutvoll, unbeirrt und heroisch
Widerstand leisteten, schmälert das aber nicht im geringsten, ganz
im Gegenteil. Denn sie waren es, die sich dem Strom eines blind
machenden Fanatismus, kollaborierenden Profitierens und
Anpassertums an das Naziregime entgegenstemmten und, ihrem Gewissen
folgend, die Fahne der Freiheit, Demokratie und Menschenwürde
hochhielten. Und wie auch anderswo standen auch bei uns unter ihnen
Kommunistinnen und Kommunisten an vorderster Stelle. Sie nahmen die
größten Opfer auf sich, um jenen Beitrag zur Abschüttelung der
deutschen Fremdherrschaft zu leisten, den die Moskauer Deklaration
vom österreichischen Volk einforderte, die Deklaration vom Oktober
1943, in der die drei Hauptmächte der Anti-Hitler-Koalition
Sowjetunion, USA und Großbritannien die Wiederherstellung
Österreichs als unabhängiger Staat als eines ihrer Kriegsziele
verkündeten. Dieser Tausenden Kommunistinnen und Kommunisten zu
gedenken, die unter dem Fallbeil starben, in Konzentrationslagern
zugrunde gingen, wegen Hochverrats ins Zuchthaus kamen, im
Untergrund Flugblätter verbreiteten und Aufklärungsarbeit
betrieben, in den Rüstungsbetrieben die Produktion sabotierten, die
in Frankreich, Belgien und Jugoslawien in den Reihen der Résistance
und der Partisanenverbände standen, die in den alliierten Armeen
und im Exil am Kampf gegen den Faschismus teilnahmen – ihrer
zu gedenken ist uns an diesem Tag ein aus vollem Herzen kommendes
Bedürfnis. Wir Nachgeborenen sind ihnen für ihren opfervollen Kampf
für immer zu Dank verpflichtet und müssen auch künftig alles in
unserer Macht stehende tun, um ihre großen Verdienste immer wieder
in Erinnerung zu rufen.
Befreiung
Die Stunde der Wiedererstehung Österreichs schlug, als Ende März
1945 die 3. Ukrainische Front die Offensive gegen Wien eröffnete
und die Hauptstadt unseres Landes am 13. April nach einwöchigem
schweren Kampf befreite. 18.000 Sowjetsoldaten mussten dabei ihr
Leben lassen. Es war eine wirkliche Befreiung, ohne jene hämischen
Anführungsstriche, unter die unsere antikommunistischen
Meinungsmacher diesen Begriff noch immer zu setzen pflegen. Die
Sowjetunion hielt sich in ihrer Österreich-Politik strikt an die
Grundsätze der Moskauer Deklaration. Sie gestattete umgehend die
Wiederbegründung der Parteien, der ÖVP, SPÖ und KPÖ, des
Gewerkschaftsbundes und anderer gesellschaftlicher Organisationen,
sie vertraute österreichischen Antifaschisten und Demokraten
Funktionen in der Verwaltung des Landes an, um den Wiederaufbau in
Gang zu bringen, die Versorgungsprobleme zu lösen und die
Voraussetzungen geordneten staatlichen Leben zu schaffen. Die
sowjetische Seite erwies sich hier als weit entgegenkommender und
liberaler als die Westmächte in den von ihnen besetzten Teilen
Österreichs. Die Einsetzung der Renner-Regierung durch den
Oberbefehlshaber der 3. Ukrainischen Front, Marschall Tolbuchins,
auf Anweisung Stalins war außerdem jener Schritt, der die
entscheidende Grundlage für die Wiedererrichtung eines
unabhängigen, selbständigen und vor allem einheitlichen
österreichischen Staates schuf. Für die Sowjetunion bedeutete die
Einsetzung einer österreichischen Regierung nicht nur eine
Erleichterung ihrer Besatzungsaufgaben, sie war auch das weithin
sichtbare Signal der de facto-Trennung Österreichs vom Deutschen
Reich und dafür, dass die Sowjetunion die unter den Westmächten
immer noch schwelende Diskussion über die Zukunft Österreichs
– Stichwort: Plan einer Donaukonföderation mit Bayern und
Ungarn – für endgültig erledigt betrachtete. Und durch das
beharrliche Streben der Sowjetunion, die Anerkennung der
Renner-Regierung durch die Westmächte zu erreichen, sind Umtriebe,
in Westösterreich eine Gegenregierung zu etablieren mit der Gefahr
der Spaltung unseres Landes hintan gehalten worden.
Um die Befreiung des Jahres 1945 richtig und historisch
wahrheitsgetreu würdigen zu können, ist es notwendig, auf
Ergebnisse einzugehen, die heute von den politischen und
wirtschaftlichen Eliten in unserem Land nur zu gern vergessen und
unter den Teppich gekehrt werden. Als sich die Niederlage des
NS-Regimes und seiner Satelliten in Europa abzuzeichnen begann,
also noch während des Zweiten Weltkriegs, wurde es klar, dass mit
der Zerschlagung des Faschismus auch eine tiefe Krise des
Kapitalismus in Europa eintreten musste, weil sich die
Großbourgeoisie nicht nur in Deutschland, sondern auch in den
meisten anderen Ländern des europäischen Festlandes auf das engste
mit den Regimen verbunden hatte. Ein beträchtlicher Teil der
Bourgeoisie und ihrer Schachfiguren im Apparat der politischen
Parteien und des Staates war durch die Kollaboration mit dem
Faschismus diskreditiert. Die Schwächung dieser Kräfte auf faktisch
allen Gebieten und die Tatsache, dass die Leiden, denen die Völker
durch Faschismus und Krieg unterworfen waren, zu einer
Zusammenballung großer gesellschaftsverändernder Energien führten,
schufen günstige Bedingungen für das Wachstum der Arbeiterbewegung
und allgemeindemokratischen Bewegung, was bekanntlich so weit ging,
dass der antifaschistische und nationale Befreiungskampf in einer
Reihe von Ländern Europas und Asiens in sozialistischen Umwälzungen
ausmünden konnte. Aber auch anderswo trat 1945 für eine gewisse
Zeit eine Situation ein, die man als Einschränkung und Verletzung
der gewohnten Grundsätze kapitalistischen Wirtschaftens
charakterisieren kann.
Österreich hat dazu gehört. Aus den von der Roten Armee befreiten
Gebieten Österreichs hatten sich die meisten Großunternehmer nach
dem Westen abgesetzt, die direkt mit dem NS-Regime verbundenen
Teile der Bourgeoisie und die höhere Beamtenschaft waren aus den
Betrieben und der Staatsverwaltung verschwunden. Die Arbeiter
selbst übernahmen mit den demokratischen Schichten des Volkes den
Aufbau und die Leitung der Betriebe sowie der Verwaltung. Verbunden
mit dieser aktiven Anteilnahme am Wiederaufbau war die Forderung
nach Verstaatlichung der Betriebe, einer Demokratisierung der
Verwaltung und nicht zuletzt der Wunsch nach einem neuen Weg, den
Österreich künftig beschreiten sollte. Diese breite Massenstimmung
trug dazu bei, dass selbst der Vorsitzende der bürgerlichen Partei
ÖVP, Leopold Figl, 1945 von einer revolutionären Erneuerung
Österreichs sprach und sie ankündigte.
Das alles hat sowohl verfassungsrechtlich wie realpolitisch seinen
Niederschlag gefunden, in der Unabhängigkeitserklärung vom 27.
April 1945, dem grundlegenden staatsbildenden Dokument der 2.
Republik, in der Verstaatlichung der Schlüsselindustrien und
Großbanken, in der Gründung des einheitlichen Österreichischen
Gewerkschaftsbundes, in der Erweiterung der Rechte der
Betriebsräte, im Ausbau des Arbeits- und Sozialrechts, im
NS-Verbotsgesetz und Kriegsverbrechergesetz und anderem mehr.
An dieser Stelle ist nachdrücklich daran zu erinnern, dass die
österreichische Ausprägung der gewaltigen politischen
Errungenschaften, die durch den Befreiungskampf der Völker im
Zweiten Weltkrieg erwirkt wurden, auch in der Weiterentwicklung der
formal-demokratischen Bundesverfassung der 1. Republik zu einer
demokratisch-antifaschistischen Verfassungsordnung nach 1945
bestand. Neben den genannten Gesetzen des Jahres 1945 und der
unmittelbaren Jahre danach gehören dazu Bestimmungen des
österreichischen Staatsvertrages, die 1964 zu Verfassungsgesetzen
erhoben wurden und damit Bestandteil des geltenden österreichischen
Verfassungsrechts sind. Es sind das die Artikel 6 (über die
Menschenrechte), 7 (über die Rechte der slowenischen und
kroatischen Minderheiten), 8 (über die demokratischen
Einrichtungen) und 9 (über die Auflösung nazistischer
Organisationen) des Staatsvertrages. Der weit gefasste Inhalt des
Artikels 9 verpflichtet Österreich, aus dem politischen,
wirtschaftlichen und kulturellen Leben alle Spuren des Nazismus zu
tilgen, um zu gewährleisten, dass der Faschismus nicht in
irgendeiner Form wiedererstehen kann. Er bringt auch die
historische Erfahrung zum Ausdruck, dass der Militarismus stets der
Weggefährte des Faschismus war, und verpflichtet Österreich daher,
jede militaristische Tätigkeit und Propaganda zu verhindern. Auch
die Rechtsprechung der Höchstgerichte trägt dieser Grenzziehung
gegenüber faschistischen und antidemokratischen Bestrebungen
Rechnung. Der Oberste Gerichtshof sprach z.B. in einer Entscheidung
Anfang der siebziger Jahre aus, dass eine nazistische Äußerung, die
unter das Verbotsgesetz fällt, nicht den Schutz des Grundrechts auf
freie Meinungsäußerung genießen kann.
Die österreichische Verfassungsordnung der 2. Republik ist also
keinem abstrakten Pluralismus verpflichtet, sondern ist klar
demokratisch-antifaschistisch strukturiert. Die darin
festgeschriebenen Grundsätze stehen in einem unauflöslichen
politischen Zusammenhang und lauten: staatliche Unabhängigkeit,
Demokratie, Antifaschismus, Antimilitarismus und Neutralität.
Staatsvertrag
Diese Fundamente der österreichischen Staatlichkeit nach 1945
verdanken wir, schlicht und einfach gesagt, der durch die
Ergebnisse des Zweiten Weltkriegs bewirkten Schwächung der globalen
Positionen des Kapitalismus, der Existenz der Sowjetunion und der
weltweiten Machtzunahme der kommunistischen Bewegung. Ohne diese
epochale Kräfteverschiebung wäre Österreich niemals das geworden,
was es in den Jahrzehnten nach 1945 wurde und wozu auch als
untrennbarer und für die Herrschenden politisch notwendiger
Bestandteil der Ausbau der Sozial- und Wohlfahrtsstaates gehörte.
Es ist daher nur folgerichtig, dass die Attacken gegen den Sozial-
und Wohlfahrtsstaat, die vor ungefähr 15 Jahren begannen und auf
seine Demolierung abzielen, immer mit Attacken verbunden waren
gegen den Staatsvertrag und die Neutralität als angeblich
„souveränitätseinschränkende“ und „obsolet
gewordene Relikte der Vergangenheit“.
Damit komme ich zum Staatsvertrag von 1955, der ja im heurigen
Gedenkjahr gezielt in den Vordergrund geschoben wird durch zwei
gleichsam „staatsoffizielle“ Ausstellungen, auf der
Schallaburg und im Belvedere. Unschwer wird der Besucher dort das
Geschichtsbild wieder finden, das in den Köpfen der
Durchschnittösterreicherinnen und –österreicher über diese
Zeit dominiert und das nichts anderes als das von den Herrschenden
geprägte Geschichtsbild ist: Österreich, ein kleines, friedliches
Land, weltweit beliebt wegen der Schönheit seiner Landschaft und
der Freundlichkeit und Gemütlichkeit seiner Bewohner, wird 1938
schuldlos und von allen europäischen Mächten im Stich gelassen zum
ersten Opfer Hitlerscher Aggression; schweres Leid und furchtbare
Entbehrungen für die Menschen unseres Landes im Zweiten Weltkrieg;
im Jahr 1945 „befreit“, aber nicht frei; der Leidensweg
Österreichs dauert durch die Viermächtebesatzung fort, insbesondere
durch die Anwesenheit der sowjetischen Besatzungstruppen; schwer
muss das Land zehn Jahre lang um seine Freiheit ringen und dafür
wegen der Existenz der USIA-Betriebe und für die Ablöse des
ehemaligen deutschen Eigentums an die Sowjetunion, einen hohen
Preis bezahlen; der Staatsvertrag bringt uns endlich die Freiheit
und ist deshalb schätzenswert; gleichzeitig enthält er aber
Bestimmungen, die den Handlungsspielraum Österreichs beschränken
und vor allem der kommunistischen Sowjetunion Handhaben bieten, um
Druck auf Österreich auszuüben - siehe den Einspruch gegen den
Beitritt Österreichs zur EWG Anfang der sechziger Jahre, und
anderes mehr.
In Wahrheit ist Österreich mit dem Staatsvertrag durchaus
glimpflich davongekommen. Stellt man in Rechnung, welche Rolle die
Österreicher und konkret die ökonomischen Nutznießer und
kollaborierenden Profiteure des NS-Systems bei uns im Zweiten
Weltkrieg wirklich spielten, dann sind die Auflagen des
Staatsvertrags sogar moderat. Mehr noch: die wichtigsten
Bestimmungen sind solcher Art, dass sie von jedem mit einer
ehrlichen demokratischen Gesinnung als positiv und begrüßenswert
eingeschätzt werden müssen. Dazu zählen Art. 6 über die
Menschenrechte, der Art. 7 über die Rechte der slowenischen und
kroatischen Minderheiten, der Art. 8 über die demokratischen
Einrichtungen, der Art. 9 über die Auflösung nazistischer
Organisationen, und der Art. 10 über besondere Bestimmungen der
Gesetzgebung, in dem, für mich besonders sympathisch, Österreich
unter anderem verpflichtet wird, das Habsburgergesetz
aufrechtzuerhalten. Wie schon erwähnt sind diese genannten
Bestimmungen 1964 zu Verfassungsgesetzen erhoben worden und damit
Bestandteil des geltenden österreichischen Verfassungsrechts.
Erinnern wir uns daran, dass gleich nach dem Ende des
sozialistischen Staatensystems in Europa die österreichische
Bundesregierung mehrere Artikel des Staatsvertrags, darunter die
Auferlegung des Verbots für bestimmte Waffen, für obsolet erklärt
hat, und im Zuge des Beitritts Österreichs zur EU im Jahr 1995
massiv auf die Obsoleterklärung des Staatsvertrags in seiner
Gesamtheit hingewirkt wurde. Der heutige Nationalratspräsident
Andreas Khol hat damals den Staatsvertrag als nur noch
„anbetungswürdiges Tabernakel der Verehrung“
bezeichnet, das keinerlei inhaltliche Aktualität mehr
besitze.
Man ist dann doch davon abgekommen, einen solchen Schritt zu
setzen, wohl deshalb, weil man sich bewusst wurde, damit
außenpolitisch ein falsches Signal zu geben. In Wahrheit ist der
Staatsvertrag mit seinen wesentlichen Inhalten Demokratie,
Antifaschismus, Verpflichtung Österreichs zur Bekämpfung aller
Formen des Nationalsozialismus und Minderheitenschutz nicht
obsolet, sondern harrt sogar bis heute beim Artikel 7, dem
Minderheitenschutz, seiner Verwirklichung und Einlösung –
siehe Kärnten und den Kärntner Heimatdienst, wo es im Artikel 7 an
einer Stelle sogar ausdrücklich heißt, dass „die Tätigkeit
von Organisationen zu verbieten ist, die darauf abzielen, der
kroatischen und slowenischen Bevölkerung ihre Eigenschaft und ihre
Rechte als Minderheit zu nehmen“.
Neutralität
Vier Monate nach der Unterzeichnung des Staatsvertrages ist es
im Epochenjahr 1955 schließlich dazu gekommen, dass der
österreichische Nationalrat ein Gesetz verabschiedete, das kein
alltägliches Gesetz war, sondern eines von besonderem Gewicht, im
Verfassungsrang, das Bundesverfassungsgesetz über die immerwährende
Neutralität. Österreich erklärte es aus „freien
Stücken“, was so viel heißt wie „nicht dazu
gezwungen“, „frei entscheidend“, „aus
eigenem Willen“. Als Zweck dieser Willensentscheidung zum
neutralen Status wurde nicht bloß die militärische
Bündnislosigkeit, die Nichtteilnahme an Kriegen und die
Nichtzulassung militärischer Stützpunkte auf österreichischem
Territorium proklamiert. Die immerwährende Neutralität sollte
vielmehr, wie es in dem Gesetz heißt, die dauernde Behauptung der
Unabhängigkeit Österreichs nach außen und die Unverletzlichkeit
seines Gebietes gewährleisten. Und wenn von Erhaltung der
Unabhängigkeit die Rede war, dann war damit eindeutig die
Unabhängigkeit von Deutschland gemeint, denn eine Bedrohung von
jemand anderem hatte es vorher nicht gegeben.
Es ist immer wieder nützlich, daran zu erinnern, dass die
Neutralität in den Jahren vor 1955 von der ÖVP, SPÖ und dem
Vorläufer der Freiheitlichen Partei, der VdU, abgelehnt wurde. Ein
Land, das sich zu „westlichen Werten“ bekenne, so wurde
argumentiert, dürfe sich nicht auf die „Standpunktlosigkeit
eines farblosen Neutralismus“ begeben. Nur die Kommunistische
Partei Österreichs hat seit 1953 den neutralen Status gefordert und
ist in dieser Sache nach einer vorübergehenden kurzen Schwankung im
Jahr 1954 konsequent geblieben. Als es dann zur Vereinbarung in
Moskau im April 1955 kam, die den Weg zum Staatsvertrag ebnete,
gingen auch die ÖVP und SPÖ auf die Position der Neutralität über.
Ihre Abgeordneten waren es, die gemeinsam mit den Mandataren der
KPÖ am 26. Oktober 1955 das Neutralitätsgesetz mit der notwendigen
Zweidrittelmehrheit beschlossen. Die Vorläufer der Freiheitlichen
stimmten dagegen.
Die geschichtlichen Erfahrungen haben gezeigt, dass Österreich in
den Jahrzehnten danach mit der Neutralität gut gefahren ist. Mehr
noch: der Weg vom Anschlussgedanken des Jahres 1918 zur
Neutralitätserklärung 1955 war der Weg Österreichs zu sich selbst,
der Weg aus gefährlichen Abenteuern zu geradezu idealen
Voraussetzungen seiner staatlichen Existenz. Die Neutralität war
dem Status Österreichs als Kleinstaat einzig adäquat und wie auf
den Leib geschneidert.
In dem Zusammenhang muss auf das nach wie vor vorhandene
Geschichtsklischee eingegangen werden, wonach Österreich im Jahr
1955 die Neutralität von Moskau „aufgezwungen“ worden
sei. Es liegt auf der Hand, dass diejenigen, die Österreich zu
einem Teil des westlichen Blocksystems machen wollten, die
Neutralität als etwas Aufgezwungenes empfanden, und diese
Behauptung stets dazu diente, die öffentliche Meinung darauf
vorzubereiten, im gegebenen opportunen Moment die Neutralität über
Bord zu werfen. Die Wahrheit ist, dass die Sowjetunion eine
Neutralitätspolitik als den einzig gangbaren Weg zum
österreichischen Staatsvertrag aufzeigte und der österreichischen
Regierung die Entscheidung darüber überließ. Die österreichische
Regierung wählte diesen Weg, und die österreichische Bevölkerung
hat die Neutralität gerne akzeptiert.
Die Sache hat aber noch einen Aspekt, einen noch weit
gravierenderen. Wenn Österreich über Jahrzehnte mit der Neutralität
gut gefahren ist, durch sie zu einem geachteten Mitglied der
Staatengemeinschaft wurde, die Ära der aktiven Neutralitätspolitik
die vielleicht positivste Periode unserer gesamten Geschichte war,
und wenn es also dann so sein sollte, dass ein anderer Staat, noch
dazu ein kommunistischer, Österreich zu diesem Glück erst zwingen
musste, dann stellt das jenem Teil der herrschenden Kreise, die bei
uns Gegner der Neutralität waren und blieben, ein beschämendes,
geradezu vernichtendes Zeugnis aus.
Immerhin hat Österreich – und das muss der historischen
Gerechtigkeit willen gesagt werden – eine Zeitlang ein
durchaus eigenständiges Neutralitätsverständnis entwickelt und eine
aktive Neutralitätspolitik betrieben, die die Möglichkeiten zu
einem kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Brückenschlag
zwischen Ost und West, zum Engagement in internationalen
Friedensaufgaben nützte. Dadurch gewann Österreich in der
Staatenwelt ein hohes Ansehen – etwas, von dem heute
überhaupt nichts mehr zu spüren ist - , es wurde als Ort geachtet,
wo Begegnung und Austausch, Vermittlung und Gespräch in
Konfliktfällen der internationalen Politik stattfinden konnten. Die
Anerkennung dieser Tatsache blieb nicht aus. Wien wurde neben New
York und Genf zum dritten Hauptsitz der Vereinten Nationen,
Österreich wirkte im UNO-Sicherheitsrat mit und spielte eine
wichtige und positive Rolle im KSZE-Prozess der siebziger Jahre.
All das hat die internationale Stellung Österreichs gestärkt und
gegenüber der Situation in den Jahrzehnten vor der
Neutralitätserklärung von 1955 unvergleichlich verbessert.
Die österreichische Bundesregierung hätte aber schon damals noch
viel weiterreichende Beiträge leisten können. Es hat immer Kräfte
bei uns gegeben, die die Neutralität als ausschließlich
militärische ansahen und engagierte Konzepte zur Abrüstung,
Entmilitarisierung und Friedenssicherung unberücksichtigt ließen.
Ein Hauptstützpunkt dieser Kräfte war das Offizierskorps des
Bundesheeres, das Verbindungen zur NATO knüpfte und ihr über die
Radar- und Abhörstationen im Osten Österreichs geheime Nachrichten
über die Länder des Warschauer Pakts zukommen ließ. Folgerichtig
wurde die Bundesheergeneralität nach 1989/91 einer der
vehementesten Befürworter der Aufgabe der Neutralität und des
Beitritts zur NATO.
Die Neutralität hatte aber nicht nur außenpolitische Bedeutung. Sie
war auch nie ein bloß völkerrechtliches Instrument. Sie hatte auch
eine zutiefst politische Funktion bei der Herausbildung und
Festigung der nationalen Identität der Österreicher und
Österreicherinnen. Wenn im Jahr 1956 nur 49 Prozent der
Österreicher bejahten, dass sie eine eigenständige Nation seien und
dieser Prozentsatz mittlerweile auf weit über 80 angewachsen ist,
dann ist das auch und sogar in erster Linie der Neutralitätspolitik
geschuldet, weil sie ein identitätsstiftender Ausdruck für den
Eigenwillen und das Eigenleben der Republik Österreich ist.
Entgegen diesem Willen und Grundgefühl der großen Mehrheit der
österreichischen Bevölkerung betrieben die wirtschaftlichen und
politischen Eliten ab einem bestimmten Zeitpunkt die systematische
Aushöhlung und Demontage der Neutralität. Begonnen hat das um das
Jahr 1987 noch in der Gorbatschow-Ära, als sichtbar wurde, dass es
mit der Sowjetunion und dem System des realen Sozialismus in Europa
bergab ging. Nach den Ereignissen von 1989 und dem Zerfall der
Sowjetunion 1991 wurde dann die Neutralität plötzlich als überholt
und wertlos erklärt, als Relikt einer besonderen Situation der
Kalten-Kriegs-Vergangenheit. Der Neutralitätsstatus wurde
verächtlich gemacht und als Begriff negativ besetzt. Man sprach von
„Trittbrettfahrerei“, von einem feig-opportunistischen
Heraushalten aus dem System der europäischen Solidarität, von einer
„unbrauchbaren, zutiefst unanständigen Haltung, die den
konkreten Interessen Österreichs widerspricht“ und, wie es
unlängst der Verfassungsrechtler Heinz Mayer in einem Interview für
die „Salzburger Nachrichten“ vom 13. April 2005
ausdrückte, von „einer der großen Lügen der österreichischen
Politik“.
Das Österreich von heute
Woher kommt das alles? Woher stammen die Attacken gegen die
Neutralität? Wer steckt dahinter und mit welchen Motiven und
Interessen? Dass sie nicht von unten, von der Basis, von der Masse
der Menschen in unserem Land ausgehen, ist klar. Der Träger der
Angriffe sind die wirtschaftlich Mächtigen in unserem Land, ist das
österreichische Großkapital.
Um dessen Motive besser zu verstehen muss man in die Geschichte
zurückzugehen, bis zum Epochenjahr 1918. In diesem Jahr des
Zusammenbruchs der Habsburgermonarchie verlor die real herrschende
Schicht, das deutschösterreichische Industrie- und Bankkapital, mit
einem Schlag seine ökonomische Führungsposition im Rahmen einer
europäischen Großmacht. Diesen Sturz von den wirtschaftlichen
Kommandohöhen in Mittel- und Südosteuropa hat das österreichische
Großkapital nie verwunden. Von daher stammt das Gerede von der
„Lebensunfähigkeit“ Österreichs, die die gesamte Erste
Republik durchzieht, stammen die diversen
„Donaukonföderations“-Pläne, die Anschlusspropaganda,
die „Mitteleuropa“-Idee, das Wort vom „Verhungern
in der Neutralität“, und letztlich die 1994/95 erfolgreich
durchgezogene Kampagne für den Vollbeitritt zur EU. In höchst
anschaulicher und selten offener Weise hat das der damalige
oberösterreichische Landeshauptmann Ratzenböck ausgedrückt, als er
Außenminister Mock für seine Verdienste um den EU-Beitritt mit dem
höchsten Orden des Landes Oberösterreich auszeichnete. Er sagte da
in seiner Laudatio: „Im Jahr 1918 ist uns Österreichern der
Rock zu eng geworden. Das unbequeme Sitzen, das Zwicken und
Zwacken, ist jetzt, nach über siebzig Jahren, endlich
vorbei.“
Damit haben wir das erste Motiv vor uns liegen: Staatsvertrag und
Neutralität von 1955 haben nämlich mit ihren Bestimmungen über
Unabhängigkeit, Souveränität und Anschlussverbot angeknüpft an den
Friedensvertrag von Saint-Germain, indem sie den Status Österreichs
als eines Kleinstaates festschrieben. Das ist es, was das heimische
Großkapital, dessen ökonomische Potenzen und Interessen
mittlerweile weit über diesen Rahmen hinausreichen, so stört.
Weiters soll daran erinnert werden, dass die Herrschenden in
unserem Land zweimal in diesem Jahrhundert sich dem deutschen
Imperialismus in die Arme geworfen haben und an seiner Seite, als
dessen Unterläufel, auf Raubzüge in Europa ausgegangen sind, im
Ersten und Zweiten Weltkrieg. Beide Versuche haben - weniger für
sie als für die Volksmassen in unserem Land - mit einer furchtbaren
Katastrophe geendet. Staatsvertrag und Neutralität erinnern die
dafür Verantwortlichen permanent an diese ihre Verstrickung in die
verbrecherische NS-Herrschaft, und das ist ein weiteres nicht
unwichtiges Motiv, um sich von ihm freimachen zu wollen.
Und wenn der so genannte „Wohlfahrtsstaat“ der
sechziger und siebziger Jahre jetzt Stück für Stück in Trümmer
geschlagen wird, so gehen die Angriffe gegen die sozialen
Errungenschaften auch mit den Attacken gegen die Neutralität
parallel. Das ist so, weil beide eine gemeinsame Wurzel haben:
nämlich den - wie behauptet wird - „unnatürlichen“
Zustand zu beenden, in dem sich Österreich seit 1918 und, erneuert
und international festgeschrieben, seit 1955 befand, einen Zustand,
der deshalb als „unnatürlich“ und „durch die
Geschichte überholt“ verleumdet wird, weil er der freien
Entfaltung der tatsächlichen ökonomischen Potenzen und
Verwertungsbedingungen des österreichischen Großkapitals hemmend im
Wege stand und steht. Mit dem EU-Beitritt und der EU-Osterweiterung
will man jetzt wieder dort anknüpfen, wo der Faden gerissen ist, an
jenen Zustand vor dem Ersten Weltkrieg, als die Führungsschichten
des Habsburgerreiches im imperialistischen Konkurrenzkampf
erfolgreich mitmischten, expandierten, Einflusssphären hatten,
Machtpositionen in Mittel- und Südosteuropa besaßen. Die damit
verbundenen Gefahren möglicher Verstrickung in Konflikte, auch
kriegerischer Art, kalkuliert man kaltblütig ein in der Gewissheit,
als EU-Mitglied nicht nur sicherheitspolitisch Rückendeckung zu
haben, sondern mehr: als Bestandteil des EU-Imperialismus auch
durch Druck und Gewaltdrohung erneute, verlockende Möglichkeiten
für ökonomische Expansion zu besitzen.
Noch ist aber nicht aller Tage Abend. Die Bäume des
Globalisierungskapitalismus werden nicht in den Himmel wachsen,
auch nicht die der imperialistischen Bourgeoisie bei uns. Druck
wird früher oder später Gegendruck erzeugen in einer Welt, die von
tiefen Gegensätzen zerrissen ist, vom Konfliktpotenzial zwischen
den imperialistischen Weltzentren und den Entwicklungsländern, vom
Konfliktpotenzial des innerimperialistischen Konkurrenzkampfes, und
nicht zuletzt auch vom Konfliktpotenzial, das die nach wie vor
bestehende Klassengesellschaft bei uns in sich birgt.
Wir sind Marxisten und haben damit einen theoretischen Kompass zur
Seite, der es uns ermöglicht, sich in dieser Welt zu orientieren,
die Erscheinungen materialistisch zu analysieren, ihre Ursachen zu
erklären, Manipulation und Lüge, wie sie tagtäglich von den
Herrschenden der Masse der Menschen eingebläut werden, zu
durchschauen, einen Kompass, auf den wir nicht verzichten dürfen.
Für uns gilt weiterhin die alte Losung, dass „der Hauptfeind
im eigenen Land steht“, dass die eigene imperialistische
Bourgeoisie vorrangig zu bekämpfen ist. Macht man das, indem man
als Kommunistin und Kommunist an konkrete Bedürfnisse, Sorgen,
Wünsche der Menschen an der Basis der Gesellschaft anknüpft, kann
dadurch etwas in Bewegung gebracht und deren Ohnmachtsgefühl
überwunden werden. Ihr in der Steiermark demonstriert uns vor, dass
es auf solche Weise geht und sich durch Hartnäckigkeit, Konsequenz
und marxistische Prinzipienfestigkeit Erfolge erzielen lassen,
Erfolge, zu denen ich euch am heutigen Tag, hier, in unserer
Festveranstaltung gratuliere mit dem Wunsch, dass sich diese
Erfolge bei der kommenden Landtagswahl erneut einstellen und weiter
steigern mögen.
Veröffentlicht: 9. Mai 2005