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Elke Kahr: »Solidarität muss man leben«

Am 16. März haben in Österreich aufgrund der Pandemie-Bestimmungen viele Grazerinnen und Grazer buchstäblich über Nacht ihre Existenzgrundlage verloren. Für KPÖ-Stadträtin Elke Kahr war klar: Jetzt heißt es Ärmel aufkrempeln und für die Menschen da sein, mehr denn je. Wir haben mit ihr über ihre Erfahrungen seit Ausbruch der Krise gesprochen.

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KPÖ-Stadträtin Elke Kahr ist viel unterwegs, um den Menschen, die es brauchen, zu helfen.


Wie haben Sie auf die plötzlich geänderten Bedingungen ab 16. März reagiert?

Elke Kahr: Als klar wurde, dass Parteienverkehr in der für mich gewohnten Art und Weise nicht mehr stattfinden kann, habe ich mir als erstes ein Tablet gekauft, damit ich zeitnah Nachrichten empfangen und bearbeiten kann. Außerdem habe ich dafür gesorgt, dass sämtliche Telefonate auf meine Handynummer umgeleitet werden, wenn das Büro nicht besetzt ist. Und ich hebe immer ab bzw. rufe zurück.
 

Mit welchen Sorgen kommen die Leute derzeit zu Ihnen?

Kahr: Natürlich sind nach wie vor die Probleme da, mit denen ich sonst auch konfrontiert bin: finanzielle Engpässe, drohende Delogierungen, Mietrückstände, Kinderbetreuung usw. Viele, sowohl Angestellte als auch Selbstständige, haben ja praktisch über Nacht ihre Arbeit verloren oder sind in Kurzarbeit. Da tauchen viele Fragen auf: Wie Behördenwege erledigen? Wie um Unterstützung ansuchen, wenn das Amt zu hat? Wie sich arbeitslos melden. Wie siedeln ohne Siedlungsfirma usw. Auch bei einigen, die bisher nicht gedacht hätten, dass ihnen das einmal passieren würden, weil sie immer gearbeitet haben, ist plötzlich die Frage da: Wie das Notwendigste einkaufen, wenn das Geld fehlt?
 

Wie schaut die Hilfe derzeit aus?

Kahr: Ich versuche unbürokratisch zu helfen. Die KPÖ hat einen Kleinbus. Den haben wir verwendet, um den Leuten beim Siedeln zu helfen. Wenn kein Geld da ist, z. B. für wichtige Medikamente oder Heilbehelfe, bringe ich es den Leuten vor die Tür. Jetzt, wo die Leute nicht zu mir kommen können, geschieht das eben auf diese Weise: Ich komme zu ihnen.

Wenn Leute von zu Hause aus einen Antrag stellen wollen, geht es oft darum, dass sie weder Drucker noch Scanner daheim haben. Dann lasse ich mir die Formulare mailen, drucke sie aus und bringe sie vorbei. Auch viele Schulmaterialien haben wir in der KPÖ-Bezirksleitung ausgedruckt und zugestellt.
 

Welche Personengruppen haben es Ihrer Meinung nach besonders schwer?

Kahr: Da sind die kleinen Selbstständigen, ob sie als ÜbersetzerInnen, TherapeutInnen, Kulturschaffende, Kosmetikerinnen oder in der Erwachsenenbildung tätig sind, die keinen Anspruch auf Arbeitslosengeld haben, Studierende, die ihre Teilzeitjobs verloren haben und die Miete nicht mehr bezahlen können. Besonders betroffen ist die Gastronomie. Letztendlich trifft es fast die gesamte Bevölkerung.
 

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Gefreut hat sich Elke Kahr über diese Dankesworte, die sie von einer Familie bekommen hat, der die Backwaren der Firma Sorger vorbeigebracht hat.

Was können Sie für die Leute tun?

Kahr: Ich versuche, so viel wie möglich in Gesprächen zu lösen. Hunderte Gespräche habe ich in den letzten Wochen zwischen Fenster und Straße, auf Hinterhöfen, mit Sicherheitsabstand an Wohnungstüren und via Telefon geführt, mit den Betroffenen, mit Sozialarbeiterinnen, mit Vermietern, mit Behörden usw. Trotz der Beschränkungen findet sich meistens eine Lösung, dank des Einsatzes von vielen.
 

Was könnte die Politik in diese Situation tun?

Kahr: Es braucht für alle Menschen eine unbürokratische Überbrückungshilfe, eine Grundsicherung, bis die Leute wieder die Möglichkeit haben, arbeiten zu können.
 

Wie erleben Sie die Menschen in dieser Situation?

Kahr: Es ist täglich ein Wechselbad der Gefühle: Einmal erfährt man ganz schlimme Schicksale dann erlebt man jemanden, der in dieser schwierigen Zeit viel für andere tut, selbst wenn er es selber nicht leicht hat. Ich habe viel Hilfsbereitschaft in Nachbarschaften gesehen, viele nette Gesten im Alltag.

Was sagen Sie den Leuten, die verzweifelt sind?

Kahr: Sich selbst nicht vernachlässigen, Hilfe annehmen, auch wenn man es bisher nicht gewohnt war. Ich versuche Zuspruch und Hoffnung zu geben und den Humor nicht ganz zu verlieren. Wenn man lacht, wird vieles leichter.
 

Wird die Gesellschaft aufgrund der Krise umdenken?

Kahr: In den letzten Wochen haben viele Politiker das Wort Solidarität verwendet. Aber ich habe meine Zweifel, ob sie selbst so solidarisch sind, wie sie es von der Bevölkerung erwarten. Großverdiener spüren auch diese Krise nicht so stark, und wer es zuvor schwer hatte, der hat es jetzt noch schwerer. Es wird darum gehen, ob es gelingt, eine gerechtere Verteilung der Arbeit und der Vermögen zu erreichen. Eine Verbesserung der Situation für die Allgemeinheit wird nur stattfinden, wenn die öffentliche Hand mehr Aufgaben übernimmt, z. B. in den Bereichen Wohnen, Gesundheit, Verkehr usw. Und es geht um eine bessere Bezahlung in vielen Berufsgruppen, deren Bedeutung bisher niemand sehen wollte. Hier erhält der Begriff Solidarität eine reale Bedeutung.
 

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Gemeinsam mit KPÖ-Klubobmann Manfred Eber belieferte Kahr Einrichtungen wie das Frauenwohnheim, das Marienstüberl oder das Haus Franziska mit Backwaren der Firma Sorger.

Bundeskanzler Kurz hat angekündigt, dass er und die Mitglieder der Bundesregierung jetzt ein Monatsgehalt spenden. Ist das nicht eine schöne Geste?

Kahr: Man hat der Grazer KPÖ immer Populismus vorgeworfen, weil unsere MandatarInnen einen großen Teil ihres Nettogehaltes an Menschen in Not weitergeben. Wir tun das seit 1998, seit Ernest Kaltenegger mein Vorgänger als KPÖ-Wohnungsstadtrat wurde. Mein Stadtratskollege Robert Krotzer und ich, wir geben jeden Monat je 4.150 Euro von unserem Gehalt an Menschen weiter, die eine unbürokratische Unterstützung dringend gebrauchen können. Ich hoffe zum einen, dass jetzt die Stimmen jener verstummen, die der Grazer KPÖ Populismus vorgeworfen haben. Und ich hoffe außerdem, dass diese Solidarität der Regierung nicht in der Mottenkiste verschwindet, wenn wir gemeinsam diese schwierige Zeit überwunden haben werden.
 

Bürgermeister Nagl hat gesagt, dass er am Plabutsch-Gondel-Projekt weiterhin festhält. Wie beurteilen Sie diese Aussage in der aktuellen Situation?

Kahr: Zahlreiche Leute in unserer Stadt, zahlreiche kleine und mittlere Wirtschaftstreibende, sie alle bangen um ihre Existenz und bräuchten dringend mehr Unterstützung. Dass Bürgermeister Nagl trotzdem dieses Prestigeprojekt durchziehen will, das die Bevölkerung zumindest 38 Mio. Euro kosten wird, dafür fehlt mir jedes Verständnis. Gerade jetzt würde dieses Geld mehr denn je in vielen anderen Bereichen viel dringender gebraucht. Deshalb werden wir das Sammeln von Unterschriften für die Volksbefragung über die Plabutschgondel jetzt weiterführen. 6000 Grazerinnen und Grazer haben bereits unterschrieben. Ab 10.000 Unterschriften muss eine Volksbefragung stattfinden.
 

Wenn eines Tages alles Beschränkungen aufgehoben werden, worauf freuen Sie sich am allermeisten?

Kahr: Ich freue mich auf ein Ende der Videokonferenzen. Persönliche Gespräche sind durch nichts zu ersetzen. Außerdem freue ich mich darauf, meine Enkel wiederzusehen, mit meinem Mann ins Blaue zu fahren, mit meinen Freunden und Kollegen auf ein Achterl zu gehen und das Gefühl der Freiheit zu genießen.

 

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Über ihren Arbeitsalltag im Shutdown, den Pflegenotstand und gesundheitspolitische Lehren aus der Corona-Krise hat das Grazer Stadtblatt mit Dr. Hans Peter Meister und dem Grazer Gesundheitsstadtrat Robert Krotzer gesprochen. Lesen Sie: »Österreich war überhaupt nicht vorbereitet!«

Veröffentlicht: 1. Mai 2020

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